„Rule your mind, or it will rule you!“ - Buddha
Vipassana lehrt die Kunst des Lebens. Als eine der ältesten Meditationstechniken Indiens, ermöglicht sie, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.
Ausgebrannt und erschöpft.
Das beschreibt wohl am Besten meinen damaligen Zustand, als ich aus meinem Hamsterrad ausstieg und in eine dreimonatige Auszeit startete. Ich wollte diese Zeit so intensiv, wie möglich nutzen, um mich selbst wieder zu spüren - um mich selbst zu finden.
So stand ich plötzlich mitten im Dschungel in Sri Lanka vor den Toren eines Vipassana Meditationszentrums. Bewusst hatte ich mich im Vorfeld nur über das Nötigste informiert und wollte mich ganz unvoreingenommen in diese neue Situation begeben.
10 Tage Vipassana - "bist Du dir WIRKLICH sicher?"
Angekommen im Retreat lernte ich die anderen rund 40 Teilnehmerinnen kennen, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Aus aller Welt strömten sie also in dieses Zentrum, um ihr ganz persönliches Anliegen anzugehen.
Wie auch schon zuvor, wurde ich während der Registrierung erneut mehrfach gefragt, ob ich mir WIRKLICH sicher bin, diesen Kurs antreten und auch vollenden zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich die Intensität dieser Frage nicht... ich verpflichtete mich also, während der gesamten Kursdauer auf dem Gelände zu bleiben und den Kurs nicht vorzeitig abzubrechen.
Nach einer ersten Einweisung auf dem Gelände, wurden uns ein letztes Mal die strengen Regeln der kommenden zehn Tage erklärt.
Jeglicher Kontakt und jegliche Kommunikation zur „Außenwelt“ ist strengstens verboten - selbst der Augenkontakt zu anderen Kursteilnehmern. Auch jede Form der Unterhaltung, wie beispielsweise lesen, schreiben, Musik hören oder im Internet surfen ist untersagt. Persönliche Gegenstände werden von den Helfern weggesperrt und erst am letzten Tag wieder ausgehändigt. Nicht einmal Sport oder Yoga sind gestattet. So wird gewährleistet, dass keinerlei Ablenkung die kommenden 10 Tage gefährden und Du den Fokus ausschließlich auf dich selbst legst.
Zudem sind Männer und Frauen auf dem gesamten Gelände voneinander getrennt. Egal ob in der Unterkunft, im Essensraum oder in dem Meditationssaal - die Ablenkung durch das andere Geschlecht wird strengstens unterbunden.
Mit diesen klaren Regeln durften wir uns nun in unserer Unterkunft einrichten, bevor „das Programm“ startete.
Ich stand nun vor meinem „Bett“ - einem Steinblock mit einer dünnen, leicht angeschimmelten Matratze, darüber hängend ein löchriges Moskitonetz. Ich betrachtete das Fenster direkt neben meinem Bett, das nur von einem (sehr) grobmaschigen Gitter bedeckt war. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass ich mich mitten im Dschungel befand… mit all den exotischen, vielleicht giftigen Tieren, die hier leben. Meine Spinnenphobie hatte ich bei der Planung dieser Reise nicht bedacht...
Nachdem ich also akribisch das Moskitonetz geflickt hatte und das wenige Hab und Gut, das ich mit mir führte, sicher verschlossen in meinem Koffer neben meinem Bett stehen ließ, begaben wir uns in den Gemeinschaftssaal zum ersten offiziellen Treffen.
Dies war der Startschuss: ich „verabschiedete“ mich von den anderen Teilnehmern, vor allem von meiner Zimmergenossin und begab mich in die vollkommene Stille.
10 Stunden Meditations-Marathon
Der Zeitplan jeden Tages ist genau gleich: um 4:00 Uhr morgens werden wir mit einem Gong geweckt und versammeln uns um 4:30 Uhr im Meditationssaal, um 2 Stunden zu meditieren, bevor wir in die Frühstückspause gehen. Von 8-11:30 Uhr wird wieder meditiert, bevor die nächste - und auch letzte! - Mahlzeit des Tages eingenommen werden darf.
Nach einer kurzen Mittagsruhe geht es dann um 14:00 Uhr weiter mit der Meditation, die mit kurzen Pausen zwischendurch, bis 20:00 Uhr andauert. Im Anschluss versammeln sich alle nochmal im Gemeinschaftssaal vor einem alten Röhrenfernseher, auf dem ein Video von Satya Narayan Goenka - dem führenden Vipassana Lehrmeister - abgespielt wird. Er hält eine Rede zu jedem einzelnen Tag und beschreibt das Erlebte und den Sinn dahinter. Um 21:00 Uhr ist der Tag mit diesem abschließenden Diskurs beendet & alle Teilnehmer begeben sich in ihre Betten.
Noch nie habe ich in so kurzer Zeit solch eine Gefühlsachterbahn erlebt!
Höchst motiviert startete ich an Tag 1 in die erste, vermeintlich einfache Aufgabe: konzentriere Dich auf deine Atmung!
Nach 20 Minuten war das Einzige, worauf ich mich konzentrieren konnte, der stechende Schmerz in meinem Rücken und die Frustration, nicht einmal für wenige Sekunden der Aufgabe nachkommen zu können, da die Gedanken ständig kreisten.
„Rule your mind, or it will rule you!“ - Buddha
Erst abends im Diskurs, als S. N. Goenka zusammenfassend erklärte, warum es uns nicht möglich war, diese vermeintlich einfache Aufgabe zu erfüllen, bemerkte ich erst, dass ich den gesamten Tag mit meinen Emotionen nicht alleine war.
Da saßen nun 40 Frauen aus aller Welt, jeglichen Alters mit den unterschiedlichsten Hintergründen in diesem Saal - und uns alle verband an diesem Tag eine Gemeinsamkeit: wir konnten uns nicht auf unsere Atmung konzentrieren. Warum? Weil der Mensch nunmal so tickt: die Gedanken wandern in die Zukunft und in die Vergangenheit, aber sie sind nicht im Hier und Jetzt.
Wir Menschen sind ein Teil der Natur. Die Naturgesetze sind universell und diese Gesetze des Universums können durch Selbsterkenntnis erfahren werden.
Alles was in mir ist, ist im Außen wieder zu finden. Das Große spiegelt sich im Kleinen wider.
So begann also meine wundervolle 10-tägige Reise in die Selbsterkenntnis.
Ich lernte, meine Gedanken zu kontrollieren und mit dieser alten Meditationstechnik, dessen Ursprung in Indien liegt, meinen Körper von oben bis unten Stück für Stück gedanklich zu scannen und jede Empfindung dort, ohne Wertung, wahrzunehmen und zu beobachten.
Die einzige Konstante im Leben ist der Wandel.
Vipassana lehrte mich die Dinge so zu sehen, wie sie sind und zu akzeptieren, dass alles - aber auch wirklich alles - vergänglich ist.
Dabei durchlebte ich jede erdenkliche Emotion - von Wut, Angst, Trauer bis hin zur Freude, Dankbarkeit, Erfüllung und purer Liebe.
Selbst den tellergroßen, haarigen Spinnen, die mir morgens im Waschraum entgegen krabbelten, begegnete ich mit absoluter Gelassenheit - zugegeben: zuvor gab es vielleicht noch die ein oder andere Panikattacke...
Doch die Erfahrung, die ich kurz zuvor während der Meditation machen durfte, konnte ich sofort in diese Situation umsetzen: ich beobachtete meine Empfindungen ohne sie zu bewerten oder gar darauf zu reagieren. Ich war mir im Klaren, dass diese Empfindungen vergänglich sind - und genauso war es schließlich auch. Anstatt meine Zeit angstgesteuert im Dschungel zu verbringen, an die Spinne von heute morgen zu denken oder daran, wo sich die nächste Spinne versteckt haben könnte, begegnete ich dem Leben mit Gleichmut und genoss den Moment im Hier und Jetzt.
Mit dieser Einstellung, die ich in den ersten vier Tagen verinnerlichte, widmete ich mich der unglaublichen Hürde des fünften Tages: 3 Stunden lang sollten wir nun vollkommen regungslos meditieren, war es uns noch bis dahin zumindest gestattet, die Sitzposition zu optimieren, dem lästigen Jucken nachzugehen oder die Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.
Noch etwas skeptisch aber höchst motiviert begann ich also mit der Meditation und was in diesen 3 Stunden geschah, war für mich absolut magisch!
Ich scannte, wie schon die Tage zuvor, jeden einzelnen Körperteil systematisch ab und beobachtete diese ohne jegliche Wertung. Mit einem ruhigen Geist spürte ich ganz intensiv die Energie, die in diesem Moment durch meinen Körper floss. Mein Geist, meine Seele und auch mein Körper verspürten die Gesetze des Universums und ich verstand das Leben plötzlich auf einer viel tieferen, noch nie derart verspürten Ebene. Was anfänglich noch wie eine unüberbrückbare Ewigkeit erschien, gegen die ich mit Wut, Zweifel und Aversionen ankämpfte, akzeptierte ich nun mit einer tiefen Gelassenheit, Dankbarkeit und Liebe.
Dabei hatte sich im Grunde nichts geändert - nichts, bis auf mein Mindset..
"You cannot unexperience the experienced!"
Mit dieser (Selbst-)Erkenntnis beendete ich das Retreat nach 10 Tagen und verbrachte noch einige Zeit in Sri Lanka.
Ich ließ mein Leben Revue passieren: die Schnelllebigkeit in meiner Heimatstadt Berlin, der ständige Stress in meinem Beruf, meine Beziehungsprobleme, die Unruhe... vieles, das ich zuvor als „großes Problem“ betrachtet hatte, relativierte sich grundlegend und löste sich teilweise sogar auf. Mir wurde bewusst, dass ich selbst meine Realität erschaffe und ich die "Macht" besitze, diese alleine durch mein Mindset zu verändern!
Diese „kleine“ Erkenntnis in mir, fand ich im Großen, im Außen wieder. Kein Buch, keine Dokumentation, kein Erfahrungsbericht, kein intellektuelles Wissen hätte mir jemals diese Erkenntnis vermitteln können.
Anders als bei Religionen, die uns durch Dogmen, Gebote und Verbote vorgesetzt werden, ist das Vipassana in einem strengen 10-Tagesrahmen darauf ausgelegt, die großen Gesetze des Universums in einem selbst zu spüren und sie erst dann, wenn man es selbst erlebt hat, zu glauben.
Zum Abschluss des Retreats schauten wir uns gemeinsam die Dokumentation “Doing Time, Doing Vipassana” an - eine unglaublich inspirierende Geschichte, die das bereits Erlebte nur noch mehr verfestigte. Eine absolute Empfehlung, für jeden, der mehr über Vipassana erfahren möchte. Vipassana wird weltweit über dhamma.org kostenlos angeboten.
Auch nach mehreren Jahren zehre ich noch immer von dieser Erfahrung und habe die Achtsamkeitsübungen tief verinnerlicht. Es hat meine Einstellung zum Leben in vielerlei Hinsicht verändert - und das in nur 10 Tagen.